Spagat zwischen internationalem Erfolg und «humanem» Spitzensport

Mit dem 22. Rang im Mehrkampffinale der Kunstturn-Europameisterschaften in Paris hat die 16-jährige Bernerin Annik Salzmann gerade im richtigen Zeitpunkt eine beachtliche Leistung erzielt. Bis Ende Mai waren die Kantonal- und Regionalverbände des Schweizerischen Turnverbandes (STV) vom Zentralpräsidenten Paul Engelmann und vom Chef Spitzensport Rudolf Hediger nämlich aufgefordert worden, eine schriftliche Stellungnahme betreffend die Vorstellungen über die Zukunft des Schweizer Damen-Kunstturnens abzuge-ben. Im Zentrum dieser Analyse steht die provozierende Frage, ob eine Beteiligung im Damen-Kunstturnen an internationalen Wettkämpfen überhaupt noch gewünscht wird und weiterhin angestrebt werden soll.

Das Beispiel Holland

Im grössten Schweizer Sportverband sind die Verantwortlichen der obersten Führungsebene zum Schluss gekommen, dass eine Fortsetzung der internationalen Aktivitäten bei einer Nettoinvestition von rund 1,2 Millionen Schweizerfranken nur dann noch Sinn macht, wenn während der nächsten beiden Olympiazyklen 2004/2008 eine Qualifikation von mindestens zwei Athletinnen für die Olympischen Spiele (dies entspricht einem 18. Rang an den WM im Jahre 2007) realisiert werden kann. Dass die Schweizer Turnerinnen heute weit entfernt sind von diesem Ziel, haben die Europameisterschaften augenfällig offenbart: Die Juniorinnen belegten im Mannschaftswettbewerb den 20. Rang bei 26 teilnehmenden Verbänden, und die beste Nachwuchshoffnung, Johanna Perriere, erreichte den 34. Platz bei 62 Turnerinnen, die am Mehrkampf teilnahmen. Dass aber innerhalb einer Zeitspanne von sechs bis acht Jahren im Damen-Kunstturnen auch für nicht-russische oder nichtasiatische Verbände ein «Quantensprung» möglich ist, haben beispielsweise die Holländerinnen in der Seine-Stadt frappant demonstriert: 1996 waren sie an den EM in Birmingham noch Zwölfte gewesen, 1998 hatten sie sich in St. Petersburg auf den 10. Rang verbessert, und nun klassierten sie sich sensationellerweise im 3. Rang.

Um Ähnliches erreichen zu können, muss sich der STV ohne Vorbehalte an der internationalen Konkurrenz orientieren. Und hier kommt man nicht darum herum, den Punkt «Kinderturnen» eingehend unter die Lupe zu nehmen und vor allem auch einen mutigen Entscheid zu treffen, ob dies im grössten Schweizer Sportverband Platz findet. Den Befürwortern muss klar sein, dass die Kinder dazu «benutzt» und erzogen werden, den erwähnten internationalen Erfolg zu erzielen. Wenn beispielsweise bereits zehn- bis zwölfjährige Mädchen im Ausland während mehr als 25 Stunden pro Woche (in der Regel in einem zentralen Internats- und Trainingszentrums-Betrieb) trainieren, muss auch der STV Schritte in diese Richtung unternehmen. Damit sind Konfliktpunkte programmiert. Einerseits werden die Körper der jungen Mädchen durch die Erhöhung der Trainingsintensität mehr belastet, womit - sofern nicht medizinische Massnahmen parallel dazu eingeleitet werden - die Verletzungsanfälligkeit zunehmen wird. Auf der anderen Seite wird neben dem immensen Trainingsaufwand und der obligatorischen Schulpflicht die Freizeit der jungen Mädchen massiv beschnitten, womit der Ruf nach Kinderarbeit zusätzlich Nährboden erhält. Ist diese Frage allgemein geklärt und breit abgestützt, müssen einige grundlegende Schwachpunkte im Schweizer System verbessert - der Chef Spitzensport spricht sogar von saniert - werden. Eine Diskrepanz zum Ausland liegt beispielsweise darin, dass in der Schweiz die jungen Mädchen ihre sportliche Karriere meistens in einem Turnverein beginnen, wo sie von sehr engagierten, ehrenamtlich tätigen Trainerinnen ausgebildet werden. In der Regel wechseln sie zu spät und mit einem Manko an tadelloser Grundschulung (Basistechnik, konditionelle Voraussetzungen) in ein Leistungszentrum, wo professionelles Training angeboten werden kann. Vielfach können und wollen sich die Eltern und auch viele Vereins- und Regionaltrainer nicht von ihren Schützlingen lösen, obwohl dies - wie im Falle von Annik Salzmann - eher Erfolg garantieren kann. Die 16-jährige Athletin wohnt nun schon seit fünf Jahren bei einer Gastfamilie in unmittelbarer Nähe der Jubiläumshalle in Magglingen. Mit Hilfe von Lehrpersonen, die vom Verband bezahlt werden, konnte für sie ein Umfeld geschaffen werden, das neben dem umfangreichen Training eine schulische Ausbildung mit Fernziel Handelsdiplom zulässt.

Ungenügende Strukturen

Die Strukturen in den meisten Regionen für die Belange des Spitzenkunstturnens sind ebenfalls ungenügend. In den wenigsten Fällen sind spezielle Zentren für das Damen-Kunstturnen mit einer optimalen Infrastruktur (Schnitzelgrube, fix installierte Geräte, physiotherapeutische Einrichtungen, hauptberuflich tätige Trainer usw.) vorhanden, welche einen Anschluss ans internationale Level ermöglichen (könnten).

Der Preis des Erfolgs ist hoch

Zu guter Letzt bringt es der zurzeit sowohl als Cheftrainer als auch als Ausbildungschef tätige Ungar Ferenc Donath auf den Punkt: Die Ausbildung der Trainer und Trainerinnen in den Regionen und Vereinen muss unbedingt verbessert werden. Das vorhandene Niveau reicht seiner Meinung nach nicht aus, um langfristig die Leistungen auf Olympianiveau zu steigern. Und was noch viel schlimmer ist: Der Wille vieler Leiter und Leiterinnen zur Zusammenarbeit mit den regionalen und nationalen Leistungszentren fehlt. Fazit: Erfolge wären im Schweizer Damen-Kunstturnen durchaus möglich. Annik Salzmann hat einen ersten Anfang gemacht und will - wenn alles gut verläuft - bis zu den Olympischen Spielen in Athen (2004) weitermachen. Der Preis dafür ist hoch, nicht nur im materiellen Sinn, sondern auch unter ethischen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten. Die Basis hat nun abzuwägen, ob dieser Weg beschritten werden soll. Ansonsten ist es ehrlicher und realistischer, in Zukunft das Damen-Kunstturnen nur noch national zu betreiben.

Cornel Hollenstein (Paris)
Neue Zürcher Zeitung, 16. Mai 2000